13.3.07

Was bedeutet „Gender“?

1. DIE GENDER-IDEOLOGIE

Die feministische Gender-Ideologie hat seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts immer größeren Einfluss gewonnen. Sie besagt, dass Männlichkeit und Weiblichkeit grundsätzlich nicht von der Sexualität (vom biologischen Geschlecht), sondern von der Kultur bestimmt seien.[1] Während der Begriff “Sexualität” sich auf die biologische Natur bezieht und zwei Möglichkeiten beinhaltet (Mann und Frau), bezeichnet der Begriff Gender das soziale Geschlecht (in Orientierung an engl. gender zur Bezeichnung des grammatikalischen Geschlechts). Gemäß Gender-Ideologie beziehen sich die Unterschiede zwischen Mann und Frau – abgesehen von offensichtlichen biologischen Fakten – nicht auf eine „vorgegebene“ Natur, sondern sie seien lediglich Kulturerzeugnisse, „hervorgebracht“ gemäß den Rollen und Stereotypen, die jede Gesellschaft dem jeweiligen Geschlecht zuordnet (“sozial konstruierte Rollen”). In diesem Kontext wird (nicht ohne Grund) betont, dass die Unterschiede in der Vergangenheit häufig übertrieben worden sind, was für viele Frauen zu Diskriminierung und Ungerechtigkeit geführt hat: Jahrhunderte lang gehörte es zum “Frauenschicksal”, als minderwertiges Wesen zu gelten und von öffentlichen Entscheidungen und höherer Bildung ausgeschlossen zu sein. Aber heute – so die Gender-Vertreter – merkten die Frauen den Betrug, dem sie zum Opfer gefallen sind, und brächen die Schemata auf, die ihnen aufgezwungen wurden. Vor allem wollten sie sich von Ehe und Mutterschaft befreien.[2]

Einige Gender-Ideologen treten für die Annahme von vier, fünf oder sechs Geschlechtern unterschiedlicher Art ein: männlich heterosexuell, weiblich heterosexuell, homosexuell, lesbisch, bisexuell und indifferent. Somit erscheinen Männlichkeit und Weiblichkeit nicht mehr als die einzigen Möglichkeiten der menschlichen Geschlechtlichkeit (als „biologischer sexueller Dichotomie“). Folglich wäre jede sexuelle Praxis gerechtfertigt.[3] Die Heterosexualität – weit entfernt davon, als normal zu gelten – würde folglich nur noch eine der vielen Möglichkeiten sexueller Orientierung darstellen. Sie soll für die Fortpflanzung nicht einmal vorzuziehen sein. In “phantasievolleren” Gesellschaften, so wird betont, könne die Weitergabe des Lebens (die biologische Reproduktion) auch durch andere Techniken gesichert werden.[4] Und so wie die Gender-Identität sich immer wieder an neue und andere Bedingungen anpassen könne, stehe es jedem einzelnen frei, das Geschlecht (also „den Gendertyp“) zu wählen, wie es ihm je nach Situation und Lebensphase passe.

Um eine universale Akzeptanz dieser Ideen zu erreichen, versuchen die Förderer des radikalen Feminismus einen schrittweisen Kulturwandel – die sogenannte “De-konstruktion der Gesellschaft – voranzutreiben, wobei sie mit der Familie und der Kindererziehung beginnen.[5] Sie bedienen sich einer vieldeutigen Sprache, um ihre neuen ethischen Vorschläge vernünftig klingen zu lassen. Das Ziel besteht darin, eine neue Welt auf willkürliche Weise zu „re-konstruieren“, die die menschlichen Beziehungen anders als bisher gestaltet und neben „männlich“ und „weiblich“ auch andere Geschlechtertypen anerkennt.

Diese Aussagen haben in der individualistischen Anthropologie des radikalen Neoliberalismus ein günstiges Klima gefunden. Sie stützen sich einerseits auf verschiedene marxistische und strukturalistische Theorien[6], andererseits auf die Postulate einiger Repräsentanten der „sexuellen Revolution“ wie Wilhelm Reich (1897-1957) und Herbert Marcuse (1898-1979), die dazu aufgerufen haben, mit allen möglichen sexuellen Praktiken zu experimentieren. Noch direkter ist der Einfluss des atheistischen Existentialismus von Simone de Beauvoir (1908-1986), die bereits im Jahre 1949 ihren berühmten Aphorismus schuf: “Du wirst nicht als Frau geboren, du wirst zur Frau gemacht!”[7] Später ergänzte sie ihn logischerweise mit der Behauptung: “Als Mann ist man nicht geboren, zum Mann wird man gemacht! Auch Mannsein ist keine von Anfang an gegebene Realität.”[8] Ebenso lassen sich die soziokulturellen Studien von Margaret Mead (1901-1978) in diesen geschichtlichen Prozess einordnen. Sie bestärkten einen neuen Zweig des radikalen Feminismus, obwohl die wissenschaftliche Gültigkeit ihrer Beiträge von anderen Forschern in Frage gestellt wurde.[9]

Wenn die Befürworter der Gender-Theorie erklären, dass das männliche und das weibliche Geschlecht ausschließlich Produkt sozialer Faktoren seien und keinerlei Bezug zur sexuellen Dimension des Menschen hätten, stehen sie in Gegensatz zu einem Modell, das ebenso einseitig ist wie das ihre – nur mit umgekehrten Vorzeichen. Dieses Modell verneint jegliche Interaktion zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft in der Ausprägung der persönlichen Identät als Mann oder Frau; und es hält daran fest, dass jedem Geschlecht aufgrund biologischer Notwendigkeiten eine geschichtlich unveränderliche, feste soziale Rolle entspreche.[10] Aber dieses Modell gilt heutzutage theoretisch und juristisch als falsch, zumindest in der westlichen Welt.[11] Es wurde von den meisten Verfassungen, wenn auch nicht vollständig, so doch in weiten Teilen, aufgegeben. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass dieses Modell weiterhin die soziale Praxis beeinflusst.[12]

2. DER PROZESS DER IDENTIFIZIERUNG MIT DEM EIGENEN GESCHLECHT

In einer realistischen Sicht sind beim Menschen Sexualität und Geschlecht – biologische Grundlage und kultureller Ausdruck – nicht dasselbe, aber auch nicht völlig unabhängig voneinander. Um den Bezug beider zueinander korrekt beschreiben zu können, ist es hilfreich, zunächst den Entwicklungsprozess zu betrachten, in dem sich die Identität von Mann oder Frau herausbildet. Fachleute weisen auf drei Aspekte dieses Prozesses hin, die sich im Normalfall harmonisch ineinander verflechten: das biologische, das psychische und das soziale Geschlecht.[13]

Das biologische Geschlecht bezeichnet die Körperlichkeit eines Menschen. Man unterscheidet verschiedene Faktoren. Das „genotypische (oder chromosomale) Geschlecht“ – von den XX-Chromosomen der Frau oder den XY-Chromosomen des Mannes bestimmt – entsteht im Moment der Befruchtung und prägt sich als „gonadales Geschlecht“ aus, das für die hormonelle Aktivität zuständig ist. Das „gonadale Geschlecht” wiederum beeinflusst das “phänotypische (oder somatische) Geschlecht”, das die Struktur der inneren und äußeren Fortpflanzungsorgane bestimmt. Diese biologischen Grundlagen greifen zutiefst in den Organismus ein, so dass, beispielsweise, jede Zelle eines weiblichen Körpers sich von jeder Zelle eines männlichen Körpers unterscheidet.

Das psychische Geschlecht bezieht sich auf das seelische Erleben eines Menschen als Mann oder Frau. Es besteht konkret in dem Bewusstsein, einem bestimmten Geschlecht anzugehören. Dieses Bewusstsein ist ansatzweise bereits im 2. bis 3. Lebensjahr vorhanden und stimmt in der Regel mit dem biologischen Geschlecht überein. Es kann durch Erziehung und Umgebung eines Kindes allerdings tiefgreifend beeinflusst werden.

Das soziale (oder bürgerliche) Geschlecht wird einem Menschen bei der Geburt zugesprochen. Es bringt zum Ausdruck, wie das neugeborene Kind von seiner Umgebung wahrgenommen wird, und bezeichnet eine dem Mann oder der Frau spezifische Verhaltensweise. Im allgemeinen wird es als Ergebnis eines historisch-kulturellen Prozesses verstanden, denn es bezieht sich auf Funktionen, Rollen und Stereotypen, die jede Gesellschaft einer bestimmten Gruppe von Menschen zuweist.

Diese drei Aspekte sollten nicht als voneinander isoliert verstanden werden. Im Gegenteil, sie integrieren sich in einem weitgespannten Entwicklungsprozess, der der eigenen Identitätsfindung dient. Während der Kindheit und Jugend entwickelt der Mensch schrittweise das Bewusstsein, „er selbst zu sein“. Er entdeckt seine eigene Identität und darin auch, in immer tieferen Schichten, die eigene Geschlechtlichkeit als die sexuelle Dimension des eigenen Seins. Er entwickelt nach und nach eine sexuelle Identität, indem er sich der biopsychischen Faktoren des eigenen Geschlechts und auch des Unterschieds zum anderen Geschlecht bewusst wird; und er entfaltet eine Gender-Identität, d. h. er entdeckt psychosoziale und kulturelle Faktoren der Rolle von Frau und Mann in der Gesellschaft. In einem harmonischen Integrationsprozess entsprechen und ergänzen sich diese Dimensionen.

Eine besondere Beachtung verdient die Intersexualität, denn Gender-Vertreter argumentieren, dass die Existenz von Hermaphroditen und transsexuellen Menschen beweisen würde, dass es nicht nur zwei Geschlechter gebe. Aber diese Formen der Intersexualität signalisieren Anomalien unterschiedlicher klinischer Art. Sie entstehen meist in einer frühen Phase der embryonalen Entwicklung und sind von der Fehlfunktion eines oder mehrerer Faktoren bestimmt, die das Geschlecht definieren. Das bedeutet, dass Hermaphroditen in einem bestimmten Abschnitt ihrer biologischen Entwicklung, die für die sexuelle Differenzierung zuständig ist, Pathologien aufweisen. Sie leiden unter Abweichungen von der normalen Entwicklung des biologischen und folglich auch des psychosozialen Geschlechts.[14] Statt diese Menschen als Mittel der Propaganda für eine „De-konstruierung” der Familiengrundlage und der Gesellschaft zu benutzen, sollte man ihnen mit Respekt begegnen und ihnen eine adäquate Therapie zukommen lassen.

Des weiteren sollte zwischen sexueller Identität (Mann oder Frau) und sexueller Orientierung (Heterosexualität, Homosexualität, Bisexualität) unterschieden werden. Unter sexueller Orientierung versteht man gewöhnlich die sexuelle Präferenz, die sich in der Jugend mit der vollständigen Entwicklung des Gehirns herausbildet. Sie hat eine biologische Grundlage und ist außerdem von anderen Faktoren wie Erziehung, Kultur und eigenen Erfahrungen bestimmt. Auch wenn die Zahlen in den verschiedenen Untersuchungen variieren, so kann man doch sagen, dass die große Mehrheit der Menschen heterosexuell ist.[15]

Wieder etwas anderes ist das sexuelle Verhalten. Im Normalfall bezeichnet es das eigene, selbst gewählte Tun. Wir sollten nicht vergessen, dass es eine große Bandbreite an Möglichkeiten gibt, wie Mann und Frau mit ihrer Sexualität umgehen können.

3. VOM SINN DER GESCHLECHTERDIFFERENZ

Da der Mensch „in der Einheit von Körper und Seele”[16] Mann oder Frau ist, prägt die Männlichkeit oder Weiblichkeit den ganzen Menschen, seine Persönlichkeit: von der Beschaffenheit und Sinnhaftigkeit der Geschlechtsorgane und deren Einfluss auf das Erleben der körperlichen Liebe bis hin zu psychischen Differenzen zwischen Mann und Frau und der unterschiedlichen Form ihrer Gottesbeziehung. Auch wenn man kein einzelnes psychisches oder geistiges Merkmal nur einem der Geschlechter zurechnen kann, so gibt es doch Wesenszüge, die sich besonders häufig und akzentuiert bei Männern und andere, die sich eher bei Frauen feststellen lassen. Hier Klarheit zu schaffen, ist äußerst schwierig. Wahrscheinlich wird es nie möglich sein, mit wissenschaftlicher Exaktheit zu bestimmen, was „typisch männlich“ oder „typisch weiblich“ ist, denn Natur und Kultur, die beiden großen Formbildner, sind von Anfang an eng miteinander verflochten. Aber die Tatsache, dass Mann und Frau die Welt unterschiedlich erleben, Aufgaben verschieden lösen, auf verschiedene Weise fühlen, planen und reagieren, findet in der biologischen Konstitution des Menschen eine solide Grundlage, wie auch die moderne Hirnforschung belegt.[17]

Bei der Sexualität spielen Identität und Unterschiedenheit eine wichtige Rolle: Mann und Frau haben die gleiche menschliche Natur, aber sie haben sie auf verschiedene Art. In vieler Hinsicht ergänzen sie sich gegenseitig. Deshalb ist der Mann „konstitutiv“ auf die Frau und die Frau auf den Mann hin ausgerichtet. Sie suchen keine androgyne Einheit, wie die mythische Vision des Aristophanes im platonischen “Gastmahl” suggeriert, sondern sie bedürfen einer des anderen, um ihre Menschlichkeit voll entwickeln zu können.[18] Nach der Genesis ist die Frau dem Mann vom Schöpfer als „Hilfe“ gegeben, was weder dasselbe ist wie „Sklave“, noch Geringschätzung bedeutet.[19] In der ehelichen Beziehung von Mann und Frau ist „Hilfe“, ist „Unterordnung“ nicht einseitig zu sehen, sondern reziprok. Eine gegenseitige Unterordnung in Liebe entspricht der Personwürde beider.

Dass nur die Frau Mutter sein kann und nur der Mann Vater, ist eine biologische Tatsache. Während die Zeugung von Nachkommen an sich nur funktionalen Charakter hat, wird sie beim Menschen durch die Liebe zu einem ganzheitlich menschlichen Akt. Durch die Bindung an die Liebe ist die menschliche Fortpflanzung von Gott in die Personmitte als gemeinsame Aufgabe beider Geschlechter gesetzt worden. Elternschaft verweist darauf, dass Gott dem Menschen das Leben anvertraut.

Beide, Mann und Frau, sind befähigt, im anderen ein grundlegendes Bedürfnis zu erfüllen. In ihrer wechselseitigen Beziehung lässt einer den anderen sich selbst erkennen und in seiner geschlechtlichen Bestimmtheit auch verwirklichen. Jeder hilft dem anderen, sich bewusst zu werden, dass er zur Gemeinschaft und zur Hingabe berufen ist. So finden beide ihr eigenes Glück, indem sie dem anderen helfen, glücklich zu sein.

Während die Festlegung auf die Gender-Ideologie eine Fixierung auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse begünstigt, verlangt die geschlechtliche Liebe von Mann und Frau eine klare Bereitschaft zum Anderen hin. Dies zeigt, dass die menschliche Fülle eben gerade in der Beziehung liegt, im Für-den-anderen-da-Sein. So wird der Menschen dazu bewegt, aus sich herausgehen, den anderen zu suchen und sich an seiner Gegenwart zu erfreuen. Die Sexualität ist gewissermaßen das Siegel der Liebe Gottes in der menschlichen Natur. Auch wenn jeder Mensch von Gott „um seiner selbst willen“[20] geliebt wird und zur individuellen Fülle berufen ist, so kann er diese nicht ohne die Gemeinschaft mit anderen erreichen. Er ist geschaffen, um Liebe zu geben und zu empfangen. Das ist der Sinn der sexuellen Bedingtheit, die einen unschätzbaren Wert darstellt. Beide Geschlechter sind von Gott selbst dazu bestimmt, zusammen zu wirken und zu leben.[21] Darin liegt ihre Berufung. Man kann sogar sagen, dass Gott den Menschen nicht als Mann und Frau geschaffen hat, damit neue Menschen gezeugt werden, vielmehr: Er habe dem Menschen die Fähigkeit zur Fortpflanzung gegeben, damit die Gottebenbildlichkeit des Menschen über die Generationen hin weitergegeben werde, die der Mensch auch in seiner sexuellen Bedingtheit widerspiegelt.

Frau sein, Mann sein, erschöpft sich nicht im Mutter- oder Vater-sein. Im Hinblick auf die besonderen Fähigkeiten der Frau wird von der „geistigen Mutterschaft“ oder auch –mit Johannes Paul II. – vom „weiblichen Genius” gesprochen.[22] Der Papst deutet auf eine seelische Dimension, auf eine bestimmte Grundhaltung hin, die der physischen Struktur der Frau entspricht und von ihr gefördert wird. Es scheint tatsächlich nicht abwegig anzunehmen, dass die starke Beziehung der Frau zum Leben besondere Begabungen wecken kann. Wie die Frau während der Schwangerschaft eine einzigartige Nähe zu dem neuen menschlichen Wesen erfährt, das in ihr heranreift, so begünstigt ihre Natur sie auch, spontan menschliche Kontakte zu den anderen Menschen ihrer Umgebung zu knüpfen. Der „Genius der Frau“ kann als ein feines Gespür für die Nöte und Bedürfnisse anderer gefasst werden, als die Fähigkeit, mögliche innere Konflikte zu erahnen und mitzutragen. Er zielt auf Personennähe, Realitätsbezug und Einfühlungsvermögen. Man kann ihn als ein Talent umschreiben, das Liebe in konkreter Form zu geben und eine Ethik der Fürsorge zu entwickeln weiß[23].

Wenn es einen „weibliches Genius“ gibt, muss es auch einen „männlichen Genius“ geben. Der Mann hat von Natur aus eine größere Distanz zum konkreten Leben. Er befindet sich immer „außerhalb“ des Prozesses der Schwangerschaft und der Geburt und kann nur durch seine Frau daran teilnehmen. Aber eben diese größere Distanz ermöglicht ihm wohl eine rationalere Handlungsweise zum Schutz des Lebens und zur Absicherung der Zukunft. Sie ermöglicht es ihm, ein wirklicher Vater zu sein, nicht nur im physischen, sondern auch im geistigen Sinn.[24] Sie kann es ihm auch erleichtern, ein unerschütterlicher Freund zu sein, der verlässlich und vertrauenswürdig ist. Andererseits kann sie auch ein gewisses Desinteresse für die konkreten und alltäglichen Dinge hervorrufen, was bedauerlicherweise in vergangenen Zeiten in einer einseitigen Erziehung gefördert wurde.

In allen Bereichen der Gesellschaft, in Kultur und Kunst, in Politik und Wirtschaft, im öffentlichen wie im privaten Leben sind Männer und Frauen aufgerufen, sich in ihrer Verschiedenartigkeit gegenseitig anzunehmen, um so in harmonischer Zusammenarbeit eine lebenswerte Welt zu schaffen.

4. EINE ADÄQUATE BEZIEHUNG ZWISCHEN SEXUALITÄT UND GESCHLECHT

Im Menschen besteht – wie gezeigt wurde - eine tiefgehende Einheit zwischen der körperlichen, der psychischen und der geistigen Dimension, eine gegenseitige Abhängigkeit von Biologischem und Kulturellem. Sein und Handeln gründen in der biologischen Natur und können nicht von ihr gelöst werden.

Für die Einheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau ist die Geschlechterdifferenz kein Hindernis. Wenn auch die weiblichen und männlichen Ausprägungen sehr flexibel sind, so können sie doch nicht völlig ignoriert werden. Es bleibt immer ein hohes Maß an natürlicher geschlechtlicher Verfasstheit bestehen, das nicht ohne verweifelte Anstrengung verdrängt werden kann, was dann schließlich zur Leugnung der eigenen Identität führen würde. Weder die Frau noch der Mann können gegen ihre eigene Natur angehen, ohne unglücklich zu werden. Der Bruch mit der biologischen Natur befreit weder die Frau noch den Mann; es ist ein Weg, der ins Pathologische führt.

Die Kultur hat ihrerseits eine adäquate Antwort auf die Natur zu geben. Sie darf kein Hindernis für die volle Entwicklung einer Gruppe von Menschen aufrichten. Es ist offensichtlich, dass es Frauen gegenüber in der Geschichte viele Ungerechtigkeiten gegeben hat, die es auch heute noch in vielen Teilen der Welt und in vielen Bereichen gibt. Diskriminierungen haben keine biologische Grundlage, sondern kulturelle Wurzeln. Soziale Funktionen dürfen nicht einfachhin an Genetik oder Biologie gebunden werden. Es ist wünschenswert, dass die Frau neue Aufgaben übernimmt, die ihrer Würde entsprechen. In diesem Sinn hat Papst Johannes Paul II. ausdrücklich die biologisch-deterministische Position abgelehnt, in der alle Rollenverteilungen und Beziehungen zwischen den Geschlechtern von einem einheitlichen statischen Modell bestimmt sind; und er hat die Männer aufgerufen, „am großartigen Befreiungsprozess der Frau“ teilzunehmen.[25] Das Mitwirken der Frau in der Öffentlichkeit und am Arbeitsmarkt ist zweifellos ein Fortschritt, der neue Herausforderungen an beide Geschlechter stellt.

In diesem Zusammenhang kann der Begriff Gender dann akzeptiert werden, wenn kulturelle Prägungen von Mann und Frau und deren Funktionen im sozialen Kontext damit umschrieben werden, ohne dass geleugnet werden dürfte, dass es eine biologisch fundierte Geschlechterdifferenz gibt.[26] Denn viele dieser Funktionen von Mann und Frau im sozialen Kontext sind nicht beliebig konstruierbar, weil biologisch verwurzelt. Deshalb “ist es möglich, ohne nachteilige Folgen für die Frau auch einen gewissen Rollenunterschied anzunehmen, insofern dieser Unterschied nicht das Ergebnis willkürlicher Auflagen ist, sondern sich aus der besonderen Eigenart des Mann- und Frauseins ergibt.“[27]

Gegenwärtig wird vielen von neuem klar, dass man nicht unabhängig von der Basis der eigenen Natur frei werden kann; dass das Geschlecht, jenseits von Privileg oder Diskriminierung, immer auch eine Chance zur Selbstentfaltung bedeutet. Folglich setzen sie sich z. B. dafür ein, dass die Förderung der Frau nicht allein im außerhäuslichen Bereich betrieben wird. Die erwerbstätige Frau darf - bei aller Anerkennung ihrer berechtigten Anliegen - nicht zum einzigen Ideal weiblicher Selbständigkeit erklärt werden; sonst entsteht ein sozialer Zwang, der sowohl den Frauen als auch den Männern und nicht zuletzt der Familie schadet.

Die Sorge für die Familie ist selbstverständlich nicht nur eine Aufgabe der Frau, sondern auch des Mannes. Aber auch wenn der Mann verantwortungsbewusst ist und seine beruflichen und familiären Aufgaben angemessen miteinander verbindet, ist nicht zu übersehen, dass der Frau innerhalb der Familie eine äußerst wichtige Rolle zukommt. Der spezifische Beitrag, den sie hier leistet, muss selbstverständlich in der Gesetzgebung voll berücksichtigt und endlich auch in finanzieller und sozialpolitischer Hinsicht gebührend honoriert werden.[28] An einer entsprechenden Gesetzgebung mitzuwirken, sollte weltweit nicht nur als Recht, sondern auch als Pflicht der Frau angesehen werden.

5. SCHLUSSBEMERKUNG

Die Entwicklung einer Gesellschaft hängt vom Einsatz aller menschlichen Ressourcen ab. Deshalb sollten sowohl Männer als auch Frauen in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens wirken können. Die Bemühungen, dieses gerechte Ziel auf den verschiedenen Ebenen der Politik, der wirtschaftlichen Unternehmen, in der Kultur, im Sozialbereich und in der Familie zu erreichen, können in der „Perspektive der Gendergleichberechtigung“ behandelt werden, sofern diese Gleichberechtigung die realistische Sicht der Geschlechterdifferenz einschließt. Einige Länder und internationale Organisationen nehmen die unterschiedliche Situation von Mann und Frau tatsächlich ernst und entwickeln Pläne für Chancengerechtigkeit, die Frauen wie Männern nützen. Wenn es gilt, politische Entscheidungen zu treffen, fordert die Gender-Perspektive dazu auf, sich von vornherein klarzumachen, wie sich die möglichen Folgen der Gesetzgebung oder bestimmter Programme auf das Leben von Frauen und Männern auswirken.

Eine so verstandene Gender-Perspektive, in der sich Menschen für das Recht auf Verschiedenheit von Mann und Frau und für ihre gemeinsame Verantwortung in Familie und Beruf einsetzen, darf allerdings nicht mit den radikalen Ansichten, die eingangs erwähnt wurden, verwechselt werden. Denn wenn die geschlechtlichen Differenzen ignoriert werden, kann nicht nur der einzelne Mensch tiefen Schaden erleiden. Zugleich wird der Weg dafür geebnet, die Fundamente der Familie und der zwischenmenschlichen Beziehungen auszuhöhlen.

Jutta Burggraf

[1] In den Sprachen, in denen man nicht –wie im Englischen– über zwei Wörter (sex – gender) verfügt, die sich inhaltlich klar voneinander unterscheiden, spricht man vom “biologischen Geschlecht” und vom “(psycho-) sozialen Geschlecht”. Im Deutschen benutzt man darüber hinaus die Wörter “Sexualität” und “Geschlecht” in diesem Zusammenhang immer öfter als direkte Übersetzung von sex und gender.
[2] Einige Befürworter der Gender-Ideologie haben schon vor Jahren vorgeschlagen, die Geschlechtsrollen zu ändern, um die Fruchtbarkeit zu reduzieren: “In order to be effective in the long run, family planning programmes should not only focus on attempting to reduce fertility within existing gender roles, but rather on changing gender roles in order to reduce fertility.”Vgl. Gender Perspective in Family Planning Programs, erstellt von der Division for the Advancement of Women for the Expert Group Meeting on Family Planning, Health and Family Well-being, Bangalore (India), 26.-30. Oktober 1992; unter Mitarbeit des United Nations Populations Fund (UNFPA).
[3] Vgl. Judith BUTLER: “Wenn man davon ausgeht, dass das Geschlecht eine von der Sexualität völlig unabhängige Konstruktion ist, wird es zu einem Kunstprodukt, frei von Fesseln. Folglich könnten Mann und männlich sowohl einen weiblichen als auch einen männlichen Körper bezeichnen; Frau und weiblich könnten ebenfalls sowohl einen männlichen als auch einen weiblichen Körper bezeichnen.” Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York–London 1990, S.6. Auch wenn dieses Buch in einigen extremen und noch radikaleren Kreisen kritisiert wird, da es sich nicht vollständig von der biologischen Dimension löst, kann es als eines der Hauptwerke über die Gender-Ideologie betrachtet werden.
[4] Heidi HARTMANN, The Unhappy Marriage of Marxism and Feminism, Boston 1981, S.16. Wie viele andere, so sah auch diese Autorin zum Teil schon die völlige Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, von Mutterschaft/Vaterschaft und Sohn- oder Tochtersein voraus, welche die heutige Technik möglich macht.
[5] PÄPSTLICHER RAT FÜR DIE FAMILIE, Ehe, Familia und “Faktische Lebensgemeinschaften” (21. November 2000), 8. Die Gender-Ideologie wird in vielen wichtigen internationalen Institutionen sehr geschätzt, unter denen sich nicht wenige Versammlungsbehörden der Vereinten Nationen befinden. Außerdem bemühen sich immer mehr Universitäten, den “Gender Studies” einen neuen wissenschaftlichen Rang zu geben.
[6] Friedrich ENGELS schuf die Basis für die Vereinigung von Marxismus und Feminismus. Vgl. The Origin of the Family, Property and the State, New York 1972. (Original deutsch: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, 1884).
[7] Simone de BEAUVOIR, Das andere Geschlecht, Hamburg 1951, S.285. (Original französisch: Le Deuxième Sexe, Paris 1949).
[8] Simone de BEAUVOIR, Alles in Allem, Hamburg 1974, S.455.
[9] Vgl. Margaret MEAD, Male and Female. A Study of the Sexes in a Changing Word, New York 1949. Gloria SOLÉ ROMEO, Historia del feminismo. Siglos XIX y XX, Pamplona 1995, S.50-53.
[10] Bezüglich der verschiedenen Modelle, die die Beziehungen von Mann und Frau verdeutlichen, vgl. die Ausführungen von María ELÓSEGUI, La transexualidad. Jurisprudencia y argumentación jurídica, Granada 1999, S.91-118.
[11] Die Unterordnung der Frau verletzt das Prinzip der Gleichheit der Geschlechter, das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung (10. Dezember 1948) und auch in zahlreichen anderen Dokumenten der UNO anerkannt worden ist.
[12] Vgl. die Studien von María ELÓSEGUI: “Es gibt auch heute noch direkte, indirekte und verborgene Diskriminierung im Arbeitsbereich, in der Sozialversicherung, im Finanzrecht, usw.” Los derechos reproductivos. Un nuevo concepto jurídico procedente del mundo legal anglosajón, in Anuario de Derecho Eclesiástico del Estado 16 (2000), S.689.
[13] Das biologische Geschlecht wird häufig sex (Sexualität) genannt, während das soziale Geschlecht als gender (schlicht Geschlecht) bezeichnet wird. Das psychologische Geschlecht wird sowohl der Sexualität als dem Geschlecht zugeordnet. Vgl. Anm. 1.
[14] Es gab schon immer Menschen, deren biologisches Geschlecht keine eindeutigen Merkmale trägt. So kann es beispielsweise vorkommen, daß das genotypische, gonadale und phänotypische Geschlecht (oder die inneren und äußeren Genitalien) nicht übereinstimmen; oder dass das psychische und biologische Geschlecht nicht harmonieren. Entsprechend empfinden transsexuelle Menschen, dass sie nicht zu dem Geschlecht gehören, das die Gesellschaft ihnen zugesprochen hat. Mehr Information bei J. GONZÁLEZ MERLO, Ginecología, Kap. 3: Estados Intersexuales, Barcelona 1998. Ana Carmen MARCUELLO y María ELÓSEGUI: Sexo, género, identidad sexual y sus patologías, in Cuadernos de Bioética (1999/3), S.459-477.
[15] Vgl. beispielsweise die Studien des Psychiaters Gerard J.M. van den AARDWEG, Das Drama des gewöhnlichen Homosexuellen. Analyse und Therapie, 3. Aufl., Neuhausen-Stuttgart 1995, S.17-47. (Original inglés Homosexuality as a Disease of Self-Pity).
[16] Zweites Vatikanisches konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et Spes (GS), 14.
[17] Vgl. Dennis D. KELLY, Sexual Differentiation of the Nervous System, in: Principles of Neural Science, hrsg. von Eric R. KANDEL, James H. SCHWARTZ, Thomas M. JESSELL, 4. Ausg. (Appleton and Lange), Norwalk, Connecticut 2000, S.1131-1149. P. NOPOULOS, M. FLAUM, D. O’LEARY, N.C. ANDREASEN, Sexual dimorphism in the human brain: evaluation of tissue volume, tissue composition and surface anatomy using magnetic resonance imaging, in: Psychiatry Res (2000/2), S.1-13. H. DAVIDSON, K.R. CAVE, D. SELLNER, Differences in visual attention and task interference between males and females reflect differences in brain laterality, in: Neuropsychologia (2000/4), S.508-514. N. SADATO, V. IBANEZ, M.P. DEIBER, M. HALLETT, Gender difference in premotor activity during active tactile discrimination, in: Neuroimage (2000/5), S.532-540. K. KANSAKU, A. YAMAURA, S. KITAZAWA, Sex differences in lateralization revealed in the posterior language areas, in: Cereb Cortex (2000/9), S.866-872.
[18] Vgl. Angelo SCOLA, ¿Qué es la vida? Madrid 1999, S.128 f.
[19] Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Mulieris dignitatem, (MD; 15. August 1985), 10. Auch der Psalmist sagt zu Gott: “Du bist meine Hilfe.” Psalm 70,6. Vgl. Psalm 115,9.10.11; 118,7; 146,5.
[20] Vgl. GS, 24 y MD, 7, 10, 13, 18, 20 y 30.
[21] Die menschliche Sexualität deutet auf einen unergründlichen Wunsch Gottes hin. Vgl. Génesis 1,27.
[22] Vgl. Jutta BURGGRAF, Johannes Paul II. und die Berufung der Frau, in Johannes Paul II., Zeuge des Evangeliums: Perspektiven des Papstes an der Schwelle des dritten Jahrtausends, hrsg. von Stephan Otto HORN SDS und Alexander RIEBEL, Würzburg 1999, S. 322-335.
[23] Vgl. MD 30.
[24] Geistige Vaterschaft bedeutet, den Egozentrismus zu überwinden und “von der Liebe erobert zu werden”. Vgl. Karol WOJTYLA, Radiation of fatherhood, in DERS., The Collected Plays and Writings on Theater, Berkeley 1987, S.355.
[25] JOHANNES PAUL II, Brief an die Frauen (29. Juni 1995), 6.
[26] Vgl. die Dokumente der Delegation des Heiligen Stuhls, die in die Akten der IV. Weltkonferenz für Frauen (Peking 1995) aufgenommen worden sind, bei José Manuel CASAS TORRES, La cuarta conferencia mundial sobre la mujer, Madrid 1998, S.78.
[27] JOHANNES PAUL II, Brief an die Frauen, 11.
[28] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Laborem exercens, (14. September 1981), 19.